Weinwissen

Die letzte Lese – Familie Leitner aus dem Kamptal

Es ist Mitte Oktober, früher Morgen.

Nebel hängt über dem Tal, die Reben sind feucht vom Tau. Die Familie Leitner steht schon seit sechs Uhr im Weinberg – Vater, Mutter, zwei erwachsene Kinder und der Nachbar, der jedes Jahr mithilft. Heute wird der letzte Veltliner gelesen.

Der Vater, Hans, ist ruhig, arbeitet konzentriert.

Er prüft jede Traube, schneidet sie ab, legt sie vorsichtig in den Eimer. „Das ist der Moment, auf den man das ganze Jahr hinlebt“, sagt er leise. Kein Pathos, nur Feststellung. Man sieht ihm an, dass er das seit vierzig Jahren tut.

Die Tochter, Lea, hat die Organisation übernommen.

Sie läuft zwischen den Reihen, zählt Kisten, ruft Anweisungen. Sie ist Anfang dreißig, hat nach ihrem Studium in Wien beschlossen, zurückzukehren. „Ich wollte wissen, ob man Weinbau heute auch anders denken kann“, sagt sie. „Ohne Chemie, ohne Hektar-Zwang – einfach ehrlicher.“

Die Mutter bringt Thermoskannen mit Kaffee und eine Schüssel Äpfel. „Wenn man den Leuten nichts gibt, lesen sie langsamer“, lacht sie. Der Nebel lichtet sich langsam, das Licht wird weicher. Auf dem Traktor hinten sammelt der Sohn die Kisten, kippt sie vorsichtig in den Anhänger.

Im Hintergrund hört man das rhythmische Klacken der Scheren, das Knirschen von Stiefeln auf feuchtem Boden. Kein Lärm, keine Maschinen – nur Stimmen, Wind und Arbeit.

„Wir lesen nur, wenn die Trauben bereit sind“, sagt Hans. „Nicht, wenn der Kalender es sagt.“ Der Most soll lebendig bleiben, die Hefe kommt von selbst. Keine Reinzuchthefen, keine Zusätze. Im Keller wird nichts korrigiert. „Man schmeckt sowieso, wenn jemand Angst hatte“, meint Lea.

Gegen Mittag kommt Sonne durch. Die Kisten sind voll, die Hände klebrig, die Gesichter zufrieden. Man spürt, dass hier etwas zu Ende geht, aber auch etwas beginnt. Nach der Lese ist Stille – dann kommt der Winter, und man hat wieder Zeit zu denken.

Als der Traktor losfährt, ruft Hans über die Schulter:

„Das war’s für heuer!“ – ein Satz, den man an der Mosel, im Burgund oder in der Wachau gleich versteht. Er klingt nach Erleichterung, Müdigkeit und Stolz. Nach Arbeit, die Sinn hat.